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Wo Findet Man Tugend?

Sokrates und Anytus debattieren, ob Tugend lehrbar ist. Während sie dies tun, kommen zwei Fragen auf: Würde ein Lehrer von Tugend von sich behaupten, Tugend zu besitzen? Und zweitens: Würde er für den Unterricht eine Bezahlung verlangen? Sokrates sagt nun folgendes darüber, wohin man Menon, ein Politiker und Befehlshaber, schicken sollte, sodass er eine Kunst lerne (gemeint ist eine Tugend, bzw. Tugend an sich):


„[…] es sei doch verständiger gehandelt, ihn zu denen zu schicken, welche diese Kunst betreiben, als zu denen, die es nicht tun? Und zu denen, die eben hierfür Bezahlung nehmen […]“ (Platons Menon, 90D).


Von diesem Punkt der Unterhaltung an nimmt die Diskussion nun einen anderen Verlauf als im Original von Platon – nicht nur in Bezug auf das Gesagte, sondern auch dadurch, dass Anytus die Sokratische Methode der Unterhaltung gegen den Philosophen selbst wendet.


Anytus: In Bezug auf Tugend scheint mir das Gegenteil richtig zu sein, Sokrates: Man findet sie mit Menschen, die nicht behaupten, sie zu praktizieren oder von ihr zu wissen. Außerdem sind sie bereit, sie weiterzugeben, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen.


Sokrates: Das scheint mir eine bedenkenswerte Idee zu sein. Dann sag‘ mir, Anytus: Warum würde der wahrhaft Tugendhafte denn behaupten, nicht im Besitz von Tugend zu sein?


Anytus: Ich möchte, nur dieses eine Mal, Sokrates, deine Argumente gegen dich wenden: Gehört zur Kunst der Tugend nicht Mäßigung in allen Dingen und Freuden, wie etwa dem Genuss von Wein, bei Speisen und im Konsum der religiösen Mythen?


Sokrates: So ist es, wahrhaftig.


Anytus: Und die Mäßigung, gehört zu ihr nicht, dass die eigenen Fähigkeiten weder über- noch unterbewertet werden?


Sokrates: Weder noch, so scheint es mir ebenfalls richtig. Denjenigen, der von sich über seine wahren Fähigkeiten hinausgehendes Können behauptete, würde man stolz nennen. Denjenigen dagegen, der das Ausmaß seines Könnens zu gering bewertete, nennt man ebenfalls stolz, denn er scheint stolz auf sein Nicht-Stolz-Sein zu sein. Mäßigung beinhaltet also die genau zutreffende Bewertung und Darstellung der eigenen Fähigkeiten, weder Über- noch Unterbewertung.


Anytus: Ich freue mich, dass du mir zustimmt. Nun, antworte mir weiter: Kann der tugendhafte Mensch jemals vollständig zur Erkenntnis aller Tugend gelangen und verstehen, was Tugend an sich beinhaltet?


Sokrates: Natürlich nicht, denn immer werden Dinge unbedacht bleiben, besonders wenn es um Tugend an sich geht.


Anytus: Folglich kann der tugendhafte Mensch nicht im Besitz der Tugend selbst sein, sondern ist derjenige, der sie anstrebt. Stimmst du zu, Sokrates?


Sokrates: So scheint es zumindest.


Anytus: Ich freue mich, dass du dich dem Argument beugst. Will man also den Menschen finden, der tugendhaft ist, sucht man nach demjenigen, der selbst die Tugend sucht. Das wird jemand sein, der nicht behauptet, sie bereits gefunden zu haben, im Gegenteil: Der Mensch, der behauptet, die Tugend nicht gefunden zu haben, ist der beste Ort, um Tugend zu finden, denn er ist gemäßigt in der Einschätzung seiner eigenen Tugend. Stimmst du mir zu?


Sokrates: Ja, der erste Teil deines Arguments ist damit etabliert. Aber was hast du zur zweiten Hälfte zu sagen: Warum würde der tugendhafte Mensch, selbst wenn es derjenige ist, der von sich nicht Tugend behauptet, sich gegen eine Gegenleistung für den Unterricht der Tugend sträuben?


Anytus: Das ist recht einfach zu verstehen: Würde derjenige, der nicht der Kunst der Medizin mächtig ist, Arzt genannt werden?


Sokrates: Natürlich nicht.


Anytus: Und würde derjenige, der nicht in der Lage ist, ein Schiff zu steuern, als Steuermann gelten?


Sokrates: Die Antwort ist erneut nein, so wie es mit jedem anderen Beruf oder Kunst der Fall wäre, die du nennen könntest.


Anytus: Sehr gut. Nun, würde der Besitzer von Waren, dem viel an der sicheren Versendung seiner Güter liegt, denjenigen dafür bezahlen, sein Schiff voller Waren zu steuern, der die Kunst des Schiff-Steuerns nicht besitzt?


Sokrates: Wenn der Besitzer bei vollem Verstand und sich der Täuschung gewahr ist, sicher nicht.


Anytus: Und würde der Kranke bereit sein, einen Arzt zu bezahlen, der nicht in der Lage ist, ihn zu heilen?


Sokrates: Das würde er nicht, denn in beiden Fällen ist es angemessen, eine fähige Person anzustellen oder zu beauftragen.


Anytus: Folglich, könnte irgendeiner der beiden, denen du gerade die Bezahlung versagt hast, mit Recht Entlohnung für die Lehre der Kunst der Medizin oder des Schiffssteuerns verlangen?


Sokrates: Offensichtlich nicht.


Anytus: Dann sehen wir uns das Argument in Gänze an. Wir haben folglich etabliert, dass der Tugendhafte derjenige ist, der nicht der Tugend mächtig ist. Ebenso kann dieser keinen Lohn für das Unterrichten der Tugend verlangen, weil er ja die Tugend nicht besitzt. Folglich ist der beste Lehrer der Tugend derjenige, der erstens nicht behauptet, tugendhaft zu sein, und zweitens zur Unterrichtung der Tugend kein Geld verlangt.


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