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Ist der Zustand der Welt zu Entsetzlich, um ihm ins Angesicht zu Blicken? – Teil 1 der Café Reihe

Diese Reihe der Modernen Sokratischen Dialoge, die „Café Reihe“, beginnt mit einer eigentlich einfachen Frage, kumuliert schließlich jedoch in dem Problem, ob, und wenn ja, wie menschliche Existenz im Angesicht unserer Zerstörungskraft gegen sich selbst und seine Umgebung zu rechtfertigen ist. Dies ist Teil eins der Reihe, in der der moderne Sokrates vier junge Studentinnen und Studenten trifft. Diese hadern mit genau dieser Frage, sind zum jetzigen Zeitpunkt aber noch mit den oberflächlichen Auswirkungen des Problems beschäftigt.



Sokrates betritt ein belebtes Café in Berlin, und bestellt einen Cappuccino sowie etwas Wasser. Er setzt sich mit seinen Getränken, und beginnt, die Szenerie zu beobachten.

Wenig später erregen Fetzen einer Unterhaltung von vier jungen Menschen an einem Tisch in einer Ecke des Raumes seine Aufmerksamkeit. Diese sitzen sich gegenüber mit ihren Handys auf den Schößen, und haben Iced Lattes auf dem Tisch vor ihnen stehen.


Junge Frau 1: Ich halte es einfach nicht mehr aus! Jedes Mal, wenn ich Nachrichten schaue oder meinen Twitter-Feed checke, nichts als Katastrophen! Alles, wofür wir Menschen noch gut sind, ist offenbar, diesen Planeten oder uns gegenseitig zu zerstören! Ich wird‘ jetzt einfach all meine Social-Media- und Nachrichten Apps löschen!


Junger Mann 1: Wir tun der Erde schreckliches an, ja! Aber glaubst du wirklich, es wäre besser, wenn man aufhören würde, all das mitzubekommen?


Junge Frau 1: Ja, das fang‘ ich langsam an, zu glauben!


Junge Frau 2: Sie hat Recht, wirklich mal. Es ist einfach so ungesund, einfach ständig all den Schmerz und das Leid und die ganze Zerstörung mitzubekommen, für die wir kollektiv verantwortlich sind. Und dann denkt mal an all die negative Stimmung online, das Heruntermachen von Frauen oder allgemein von allen, die irgendwas minimal Kontroverses zu sagen wagen.


Sokrates Aufmerksamkeit ist geweckt, und begibt sich hinüber zu den vieren, seine Getränke auf einem kleinen Tablett tragend.


Sokrates: Sorry, ihr vier, ich konnte gerade nicht anders, als von eurer Unterhaltung angezogen zu werden. Das, was du gerade gesagt hast, [lächelt junge Frau 1 an] ist mir besonders aufgefallen. Habt ihr was dagegen, wenn ich mich zu euch setze?


Junger Mann 1: Überhaupt nicht, setz’ dich. Wir hören gern’ unterschiedliche Meinungen!


Die jungen Frauen 1 und 2 nicken zustimmend, und rücken etwas zusammen auf dem zerschlissenen Sofa.


Sokrates [setzt sich]: Cool, danke euch. Ich bin übrigens Sokrates. Ich weiß, ziemlich ungewöhnlicher Name, aber meine Eltern waren einfach etwas zu begeistert von antiker Philosophie. Wie heißt ihr?


Junger Mann 1: Ich bin Tom.


Junge Frau 1: Emmelie. [hebt zwei Finger vom Oberschenkel]


Junge Frau 2: Ann, kurz für Annabella.


Sokrates: Und du? [sich wendend zum vierten, einem schmalen jungen Mann, der still zurückgelehnt in Ecke des Sofas sitzt]


Tom: Das ist Hugh.


Emmelie: Du brauchst echt nicht ständig für deinen kleinen Bruder antworten, Tom.


Hugh [leise]: Is’ schon ok, Em.


Tom: Er redet eh nicht so viel, und sein Geist schwebt sowieso ständig irgendwo da draußen rum.


Em: Also, nochmal zu dem, was ich gesagt hab’, als Hr. Griechenland hier aufgetaucht ist, ich kann diese ganzen schlechten Nachrichten einfach nicht mehr ständig schlucken [pfeffert ihr Handy auf das Sofa] Das ist alles einfach nur toxischer Scheiß!


Tom: Em, das kann ich ja verstehen, aber was ist denn, wenn was wichtiges passiert? Irgendwas, was du wissen wollen würdest? Wär’s nicht voll komisch gewesen, wenn du, sagen wir mal, letztes Jahr nicht mitbekommen hättest, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist?


Em: Ja, geb’ ich zu, das wäre schon komisch gewesen. Aber ich bin mir sicher, irgendwer hätte es mir schon gesagt. Du bist ja praktisch mit deinem Handy verheiratet, du hättest es mir bestimmt erzählt.


Sokrates: Genau das war es, was mich so neugierig gemacht hat, dass ich zu euch herübergekommen bin, Emmelie. Darf ich dich was dazu fragen?


Em: Klar, Alter, schieß‘ los.


Sokrates: Also, wenn du eine Handlung gut findest, und ich meine damit im Allgemeinen, würdest du nicht wollen, dass jeder so handeln würde?


Em: Ja, klar, obwohl ich mir nicht so sicher bin, ob es überhaupt wirklich gute Handlungen gibt.


Sokrates: Ok, aber nur mal angenommen, dass es etwas echt Gutes gäbe, was du tun könntest – und du hast gerade etwas vorgeschlagen, nämlich keine Nachrichten mehr zu konsumieren – würdest du nicht wollen, dass alle Menschen dieses Gute tun würden?


Em: Wenn es etwas echt Gutes gäbe, ja klar, denke ich mal. Aber was hat das jetzt damit zu tun, ob man aufhört, die Nachrichten zu verfolgen?


Sokrates: Dazu komme ich jetzt. Nehmen wir mal ein Beispiel einer Handlung, bei der wir alle zustimmen, dass sie gut ist, oder vielleicht eher eine, die schlecht ist und vermieden werden sollte, denn sowas kann man sich einfacher ausdenken. So ganz im Allgemeinen, stimmt du mir zu, dass niemand jemanden anderen ohne Grund umbringen sollte?


Em: Klar. [Ann und Tom nicken zustimmend]


Sokrates: Und willst du nicht auch, dass alle sich an dieses Prinzip halten? Zum Beispiel, hättest du ein Problem damit, wenn manche Menschen andere töten, während der Rest friedliebend ist?


Em: Natürlich, ja. [schmunzelt]


Sokrates: Dann haben wir das ja schon fast. Bisher haben wir festgestellt, dass, wenn wir eine gute Handlung finden, von jedem und jeder verlangen würden, so zu handeln, und nicht nur von einigen, richtig?


Em: So sieht‘s wohl aus. Angenommen, es gibt überhaupt wirklich gute Handlungen.


Sokrates: Das ist in Ordnung, mit der Qualifizierung können wir leben. Weiterhin, du bist der Meinung, dass es eine gute Idee ist, aufzuhören, die Nachrichten zu verfolgen, nicht wahr?


Em: Ja, das bin ich…


Sokrates: Also, mal angenommen, dass das wirklich eine gute Sache ist, würdest du dann nicht wollen, dass jeder es dir gleichtut?


Em: Ja, technisch gesehen schon.


Sokrates: Also würdest du auch wollen, dass Tom and Annabella und Hugh auch dabei sind, oder?


Em: Joa, vermutlich.


Sokrates: Wenn das so ist, dann sage mir doch: Wer würde dir erzählen, was so passiert, wenn all die Menschen um dich herum auch keine Nachrichten mehr verfolgen würden?


Em: Ja, klar, das könnte dann wohl niemand mehr, stimmt schon. Aber ich hab ja nicht gesagt, dass es schlecht für jeden ist, oder? Ich merk‘ einfach, dass es mir gerade nicht gut tut. Und all die Leute um mich herum können ja weiter ihre Nachrichten checken und mir es dann sagen, wenn was wichtiges passiert ist, ok?


Sokrates: Gut, ist notiert. Lass’ mich dich aber noch fragen, neben dem offensichtlichen Fakt, dass du kein Problem damit zu haben scheinst, dass andere für dich entscheiden, was wichtig für dich ist und was nicht: Wie kann etwas für dich schlecht sein, aber gut für andere Menschen, Emmelie?


Em: Weiß auch nicht, sag’ du mir das doch, du scheinst ja all die Antworten zu haben. Ich bin ja nicht die, die nach dem Gründungsvater der Philosophie benannt ist! [lacht]


Sokrates [lacht mit]: Wenn du aber ernsthaft antworten müsstest, was denkst du dann?


Em: Ich denke, dass es einfach unterschiedlich ist, wie Dinge uns mitnehmen, denn wir sind ja alle anders.


Sokrates: Keine schlechte Antwort. Doch sag’ mir folgendes, ist Fleisch gute Nahrung für Kühe?


Em: Was bitte?


Sokrates: Würdest du Kühen, wenn sie dir zuhören könnten, empfehlen, Fleisch zu essen?


Em: Natürlich nicht, aber das würde ich sowieso niemandem empfehlen! [lacht erneut]


Sokrates: Ja, gut. Aber mal im Ernst, ist Fleisch angemessene Nahrung für Kühe?


Em: Nein, ist es nicht.


Sokrates: Verrat’s mir, was wäre denn angemessen?


Em: Weiß ich doch nicht, Stroh?


Sokrates: In Ordnung, Gras ist die Antwort, oder irgendeine andere Pflanze oder sonstiges Grünzeug. Stimmst du mir zu, dass Gras für alle Kühe gut ist? Oder gibt es Kühe, in deiner Vorstellung, für die die Aufnahme von Gras von Nachteil wäre?


Em: Alter, du solltest echt mal Nachhilfe in Umgangssprache nehmen. Aber gut, um deine nicht enden wollende Neugier zu befriedigen: Ja, klar, Gras ist gut für jede Kuh. Du stellt wirklich die simpelsten Fragen, Mann.


Sokrates: Keine Sorge, du wirst gleich ihren Sinn begreifen. Weiterhin, für uns Menschen, ist Gras die richtige Nahrung?


Em: Weiß ich doch nicht, hab’ ich noch nicht ausprobiert. [lacht erneut]


Ann [in das Gespräch platzend]: Nein, denn wir können aufgrund unserer fehlender Mägen Gras nicht verdauen.


Sokrates: Treffend ausgedrückt. Emmelie, angenommen, du stimmt Annabella zu, dass Gras für uns schlecht ist, stimmt du zu, dass die angemessene Nahrung für jede Spezies unterschiedlich ist, weil die Spezies unterschiedlich sind? Und würdest du dann auch zustimmen, dass besagte Nahrung dann gut für jedes Individuum der betrefflichen Spezies ist?


Em: Da stimme ich zu, ja.


Sokrates: Und sind Nachrichten nicht auch eine Art von Nahrung, die wir konsumieren? Denn ich erinnere mich, dass du selbst vorhin auf ähnliche Art und Weise davon sprachst.


Em: Ja, da stimme ich aus vollem Herzen zu. Wir nehmen sowohl Nahrung für unseren Körper als auch unseren Geist zu uns.


Sokrates: Und seid du und Tom nicht Teil der Gleichen Art, der gleichen Spezies?


Em: Wir sind beide Menschen, wenn es das ist, was du meinst.


Sokrates: Wie kann dann dieselbe Nahrung für ihn gut und gleichzeitig für dich von Schaden sein? Denn wir waren uns einig, dass es für jede Spezies gute und angemessene Nahrung gibt, und dass ebenjene Nahrung notwendig gut für jedes Individuum der gleichen Art ist.


Em: Na gut, das macht jetzt diesen Anschein. [zuckt mit den Schultern] Jetzt weiß ich auch nicht mehr so ganz, was ich denken soll. Es fühlt sich an, als hättest du mir all meine Worte im Mund herumgedreht! Alles, was ich weiß, ist, dass dieses Ding hier – nimmt ihr Handy in die Hand, schüttelt es heftig– mir und meinem Geist so richtig schadet!


Hugh: [mit leiser Stimme] Leute, ich weiß, was ich denken soll. Aufzuhören, die Nachrichten zu verfolgen, ist einfach nicht in Einklang zu bringen mit Kants kategorischem Imperativ! Man kann sich halt nicht vernünftigerweise wünschen, dass jeder Mensch aufhört, Nachrichten zu konsumieren. Niemand wüsste mehr, was vor sich geht. Also sollte man selbst das auch nicht tun.


Ann: Okay, Klugscheißer, vielleicht ist das so. Aber das löst doch nicht ihr Problem. Ich sehe es doch jeden Tag mit meinen eigenen Augen: Es macht sie kreuzunglücklich, ständig daran erinnert zu werden, dass die Menschheit den Regenwald zerstört, täglich die Wiederholungen der Kriegsverbrechen von Kiew aus dem letzten Jahr zu sehen, mit Opfern der neusten Hitzewelle in Südeuropa oder der Dürren in Zentralafrika konfrontiert zu werden oder die Bilder der Luftangriffe auf Helsinki letzte Woche ertragen zu müssen! Und ehrlich gesagt hat sie verdammt nochmal Recht – es zieht auch mich runter, und dich, Tom, und alle unsere Freunde und unsere Familien!


Tom [nachdenklich]: Nun gut, kann schon sein. Aber was stimmt den dann – ist es gut, aufzuhören, die Nachrichten zu verfolgen? Das interessiert mich jetzt auch ziemlich! Sollten wir unsere Aufmerksamkeit weg von der Welt lenken? Und was würde daraus folgen?


An dieser Stelle verlassen wir für heute die Unterhaltung, just, als Sokrates den ersten Schluck von seinem Cappuccino nimmt.




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