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Sind Wir Perfekt? – Teil Eins

Sokrates entdeckt Orpheus, der an der Küste in der Nähe Athens sitzt. Er beobachtet einen herrlichen Sonnenuntergang, und hat vor sich eine Farbpalette, einige Pinsel und eine Leinwand aufgebaut. Sokrates tritt zu ihm.



Sokrates: Orpheus, mein liebster der heutigen Künstler! Es ist mir eine Freude, dich hier zu finden. Was versuchst du diesmal mit deinem Pinsel einzufangen?


Orpheus: Sokrates, mein liebster Kritiker; der mir immer sowohl zu sagen scheint, ich sei zugleich ohne und doch von Nutzen. [schmunzelt] Kannst du nicht erkennen, was ich tue? Die Erhabenheit von Apollon, der seinen Wagen in das Meer reitet, zeigt sich vor unseren Augen! Selten durfte ich solche Farbenpracht, solch’ großartige Form der Wolken und Kontraststärke beobachten! Und weil mein Erinnerungsvermögen aufgrund meines Alters nachlässt, und ich weit weniger wortgewandt bin als du, tue ich das, was mir aufgetragen ist: Ich versuche, die Perfektion dieses Sonnenuntergangs festzuhalten!


Sokrates: Er ist in der Tat beeindruckend. Aber sag’ mir, wenn es dich nicht stört, was genau meinst du, wenn du sagst, die „Perfektion“ des Sonnenuntergangs?


Orpheus: Heute mag der Tag sein, an dem ich Glück genug habe, dich mit meiner Antwort zu befriedigen: Die Schönheit dieses Sonnenuntergangs ist so vollkommen, dass ich nichts hinzufügen würde; folglich ist er perfekt.


Sokrates: Ja, du hast dich dieses Mal nicht schlecht angestellt. Deine Erinnerung ist nicht so schlecht, wie du meinst, denn du erinnerst dich, dass wir das letzte Mal sagten, dass perfekte Dinge solche sind, dass man nicht wünschen kann, zu ihnen etwas hinzuzufügen (noch etwas wegzunehmen), denn es ist vollkommen in sich sowie mangelt nichts. Aber könntest du dir nicht etwas vorstellen, das dieses vermeidlich perfekte Bild noch besser machte? Wie wäre es etwa mit einem tieferen Rot oder Orange um den Saum der Wolken? Würde das diesen Sonnenuntergang nicht noch schöner machen, und zeigen, dass er gar nicht perfekt war?


Orpheus: Sokrates, wieder bist du in Gefahr, meinen Ärger auf dich zu ziehen, denn du willst mich der Freude berauben, dieses Beispiel der Perfektion einzufangen, indem du es als mangelhaft bezeichnest. Nun gut, vielleicht hast du Recht, er könnte sogar noch schöner sein, aber dennoch: dieser Sonnenuntergang erscheint mir zumindest perfekt, genau wie eine Frau mit makelloser Haut und goldenem Haar, schimmernd im Licht des Mondes!


Sokrates: Diese Frau, von der du sprichst – denn ich bin sicher, du hast eine bestimmte, die du selbst gemalt hast, im Sinn – hatte sie nicht ein wenig faltige Haut an irgendeiner Stelle ihres Körpers? War da nicht ein wenig Braun in ihrem goldenen Haar zu finden, das das Bild der vollkommenen Perfektion störte? Hatte sie nicht vielleicht ungewöhnlich große Zehen, oder etwas anderes an sich, das dich störte?


Orpheus: Du verdirbst mir alle Freude, die ich meine, je erfahren zu haben, Sokrates, denn leider hast du wohl Recht. Aber was wäre, wenn ein buchstäblich genaues Abbild der Aphrodite die Erde beglücken würde? Ich bin mir sicher, sie wäre ein perfektes Objekt, das ich malen könnte!


Sokrates: Eine gute Frage, aber ich frage dich zurück, Orpheus: Hast du je eine Frau gesehen, die nicht eine kleine Unperfektheit an sich hatte, sei es in ihrem Aussehen oder ihrem Charakter, die du, wenn du dich anstrengtest, entdecken könntest?



Orpheus: Das habe ich, ehrlicherweise, leider nicht. Ich habe nie eine Frau gesehen, die nicht durch eine kleine Unvollkommenheit gezeichnet war. Und selbst wenn das, was ich sagte, wahr werden würde, und Aphrodite selbst in einer jungen Frau Verkörperung fände, würde ich wohl doch, meiner Erfahrung nach, seltsame Gedanken oder Hässlichkeit des Gemüts an ihr finden.


Sokrates: Du hast ehrlich gesprochen.


Orpheus: Aber sicher kann doch Perfektion in einer Handlung gefunden werden, etwa in einem Streich des Schwertes von Achill? Denn niemals hat sein Schlag dem Feind nicht den Tod gebracht.


Sokrates: So scheint es zumindest. Erlaube mir jedoch, dich dies zu fragen: Kann etwas, das gleich ist, etwas nichtgleiches verursachen?


Orpheus: Was meinst du damit?


Sokrates: Als Beispiel beantworte mir folgendes: Kann etwas Kaltes etwas anderes erwärmen? Denke an kaltes Wasser im Fluss, kann es Fleisch garen?


Orpheus: Natürlich nicht – worauf willst du hinaus?


Sokrates: Und kann das, was schwach ist, etwas stark machen? Stelle dir eine nie unterwiesene und körperlich schwache Person vor: kann diese einer anderen Person zur Stärke verhelfen?


Orpheus: Erneut antworte ich dir, dass dies unmöglich ist.


Sokrates: Und drittens, kann das, was schlecht ist, Gutes bewirken?


Orpheus: Du beginnst, mich zu beleidigen, Sokrates, denn natürlich ist die Antwort nein.


Sokrates: Nun, aus dem, was gesagt wurde, kann etwas Perfektes von etwas Unperfektem kommen?


Orpheus: Nein, kann es nicht. Aber was hat das zu tun mit meiner Frage zu Achills Fähigkeit mit dem Schwert?


Sokrates: Das wirst du gleich begreifen, und habe Geduld, denn wir sind noch nicht fertig. War da nicht Unvollkommenheit in Achills Versagen, seiner Mutter zuzuhören? Hat ihm das nicht den Tod gebracht, und ist diese Tatsache nicht Beweis genug für seine Imperfektion?


Orpheus: Ja, ich stimme dir wohl zu. [zögernd, mit unsicherem Gesichtsausdruck]


Sokrates: Hinzu kommt nun, wie du selbst bekräftigt hast, dass nichts Perfektes von etwas, das unperfekt ist, verursacht werden kann. Antworte mir also, wie kann ein Streich von Achills Schwert perfekt gewesen sein, wenn er selbst mit Sicherheit nicht vollkommen war?


Orpheus: Du zwingst mich, deiner Meinung zu sein, Sokrates, auch wenn es sich so anfühlt, als seien mir meine Worte im Munde herumgedreht worden. Dazu hast du mich nun traurig gemacht, und mein Herz ist mir schwer, denn wir haben festgestellt, dass es kein perfektes Ding in der Welt gibt, sei es menschliche Erscheinung oder Charakter; und nicht einmal die Kinder der Götter sind davon ausgenommen. Kann Perfektion dann etwas anderes sein als bloße Einbildung?


Sokrates: Sei‘ nicht so schnell mit deinem Urteil, Orpheus.


Orpheus: Wie könnte ich anders? [nun offensichtlich zitternd] Denn warum sollte ich weiter ein Maler sein, wenn alles, was ich je tun werde, ohne Aussicht auf Perfektion ist, weil nichts, was ich je sehen oder entdecken werde, vollkommen sein kann? Ich habe alle Hoffnung verloren, je etwas Gutes zu tun! Denn ist es nicht so, dass das, was nicht perfekt ist, auch nicht gut sein kann?!


Sokrates: Mein Lieber Orpheus, nicht so hastig. Beginne doch, für dich selbst zu denken, statt dich von mir herumführen zu lassen wie ein Esel, dem eine Karotte vor die Nase gehalten wird.


Orpheus schaut Sokrates verwundert an, und verfällt in Schweigen. An diesem Punkt verlassen wir die Szene.

Fortsetzung folgt.


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